Das angebliche stundenlange passive Stretchen ist einer der Mythen, die sich um das erfolgreiche japanische Team ranken. Wenn Asiaten im Allgemeinen und Akiyo im Speziellen klettert, gerät hier in den Analysen und Kommentaren begrifflich einiges durcheinander.
Während im Deutschen häufig einfach von Beweglichkeit gesprochen wird, wird im Englischen genauer differenziert zwischen Mobility und Flexibility.
Diese Unterscheidung zwischen Mobilität und Flexibilität ist insofern von Bedeutung, als die beiden Begriffe unterschiedliche Dinge beschreiben:
ist das passive Bewegungsausmaß der Gelenk, etwa wenn man von der Schwerkraft oder einem Partner in eine bestimmte Position gezogen wird. Einen Spagat bspw. schaffst du mit ausreichender Flexibilität, in einer Verschneidung nützlich ist er aber nur, wenn du noch handlungsfähig, sprich mobil bist. Passives Dehnen (Stretchen) fördert im besten Fall nur deine Flexibilität, aber nicht deine Handlungsfähigkeit in der gedehnten Position. Flexibilität ist nur ein Baustein der Mobilität, stundenlanges passives Stretchen ist deswegen Zeitverschwendung.
Mobilität ist nämlich aktive Beweglichkeit in einem oder mehreren Gelenken. Mobilität hängt von Körperwahrnehmung und dem neuronalen Zusammenspiel der beteiligten Strukturen ab. Mobilität erfolgt immer aus motorischer Kontrolle heraus, sprich ohne einen äußeren Zug oder Druck.
Im Weiteren spreche ich im deutschen Text von Beweglichkeit.
Beweglichkeit ist allgemein das Vermögen, unterschiedliche Stellungen und Haltungen einzunehmen, und kann sich damit auf körperliche oder auf geistige Regungen beziehen.
„Leere deinen Geist. Werde formlos und gestaltlos wie Wasser. Wenn man Wasser in eine Tasse gießt, wird es zur Tasse. Gießt man Wasser in eine Flasche, wird es zur Flasche. Gießt du Wasser in eine Teekanne, wird es zur Teekanne. Sei Wasser mein Freund.“
– Bruce Lee
Bei Akiyo lässt sich der Zusammenhang von geistiger und körperlicher Beweglichkeit gut beobachten. Sie kann jeden Bereich, den sie von ihrer Spann- und Reichweite, sowie Hüft- und Wirbelsäulenbeweglichkeit her erreicht, sinnvoll bespielen. Ein Tritt in Schulterhöhe beispielsweise wird von ihr mühelos erreicht, belastet und in die Kletterbewegung integriert.
Akiyos Beweglichkeit erlaubt ihr, sich optimal zu den Belastungsrichtungen, die die Kontaktpunkte erfordern, auszurichten. Hilfreich dabei ist, dass ihr das Überkreuzen der Körpermitte immer sehr harmonisch gelingt, was selbst auf hohem Niveau lange nicht bei jedem Kletterer der Fall ist. Dadurch nämlich, dass unsere linke Gehrinhälfte große Teile der Motorik unserer rechten Körperhälfte kontrolliert bzw die linke Körperhälfte in unserer rechten Gehirnhemisphäre repräsentiert ist, müssen die beiden Gehirnhälften Informationen austauschen, damit linke und rechte Körperhälfte synchronisiert und koordiniert werden. Dieser Vorgang ist komplex, fehleranfällig und entscheidet Kletterwettbewerbe.
Das Fasziennetz passt sich nicht nur unserem Klettern, sondern allen unseren individuellen Bewegungs- und Atemmustern an. Es wird von unseren geistigen Neigungen und den Bewegungen, die diese fördern oder hemmen, mitgestaltet.
Bei langsamen Bewegungsabläufen wie dem kontrollierten Klettern findet die Kraftübertragung von sich verkürzenden Muskelfasern auf relativ gleich lang bleibende Sehnen und Sehnenplatten statt. Die Zugkraft wird passiv von den faszialen Strukturen übertragen.
Klettern wir dagegen mit elastisch federnden, schwungvollen Bewegungen in steilem Gelände, ändern die Muskelfasern ihre Länge kaum. Sie versteifen sich fast nur isometrisch, ohne deutliche Längenänderung. Hingegen verlängern und verkürzen sich die Sehnen und faszialen Sehnenplatten federnd wie ein Jo-Jo und führen dadurch die eigentliche Bewegung herbei.
Alle modernen Wettbewerbskletterer können mit beiden Strategien Kraft erzeugen, Akiyo beherrscht jedoch eine besonders effiziente Steuerung der Mischformen.
Das schwingende Klettern verlangt eine vorbereitende Gegenbewegung um das Fasziennetz vorzudehnen beziehungsweise aufzuladen. So kann es sich durch die Rückfederung wie ein Katapult entladen und die Bewegung lässt sich leicht, fast wie von allein, ausführen.
So weit so gut, so machen das heutzutage fast alle Kletterer. Wo der Hase oft im Pfeffer liegt, ist beim Timing. Bei Akiyo führt die Rückfederung der Faszien die Bewegung, deswegen sieht der Bewegungsablauf bei ihr oft so wunderbar fließend aus. Andere Kletterer steuern die vorbereitende Gegenbewegung und die Rückfederung nicht so geschickt und arbeiten, oft auch aus psychischen Gründen, muskulär, weswegen ihr Bewegungsablauf vergleichsweise unharmonisch und anstrengend ist.
Noch vor fünf Jahren sah Akiyo bei ihren ersten Versuchen oft bestürzend überfordert aus, beispielsweise im letzten Problem in Vail 2013.
Ich erinnere mich noch genau, bei ihrem ersten Versuchen „Nie im Leben!“ gedacht zu haben. Erst 12 Sekunden vor Ablauf ihrer Zeit machte sie einen Fehlversuch, bei dem ich meine Erwartungen in „Naja, vielleicht im nächsten Leben.“ änderte. Akiyo forderte das Publikum auf, sie anzufeuern, stieg in der letzten Sekunde ein und kletterte das Problem.
Wie schon fünf Jahre zuvor bei ihrem Sieg in Eindhoven, wirkt sie nach Fehlversuchen nicht niedergeschlagen, sondern positiv optimistisch, als wenn sie der Lösung des Problems ein Stück näher gekommen sei.
Betrachtet man das Diagram der Wahrnehmungs-Handlungskopplung unter diesem Gesichtspunkt, hat sie den geistigen Kreislauf von „Knowledge -> directs -> Exploration -> samples -> Environment -> modifies -> Knowledge -> …“ inzwischen perfektioniert. Akiyo merkt sich jede Information, die sie bei ihren Versuchen von ihren Körpersinnen empfängt. Diese Informationen bereichern ihr Wissen, welches sie im nächsten Versuch zu nutzen sucht. Fehlversuche sind so für sie wertvolle Erfahrungen, die notwendig zur Lösung des Boulderproblems sind.
Hast Du das Interview mit Aleksei Rubtsov gelesen? Wenn nicht, hol es doch schnell nach, dann ist der folgende Artikel interessanter!
Alles, was Aleksei erreicht hat, hat er sich selber erarbeitet. Er verdankt seine Erfolge weder einem Coach, noch einem ausgefuchstem Traininingsplan eines Sportwissenschaftlers; er selber hat seine Prioritäten erkannt und kontinuierlich an seinen Schwächen gearbeitet. Das hat ihm zu in diesem Starterfeld unvergleichlicher Körperkontrolle verholfen. Wenn Aleksei in einer körperlichen Zwangslage seine Hüfte um 2 Millimeter nach rechts verschieben will, um den großen Zeh des linken Fußes zu entlasten und so einen delikaten Fußwechsler einzuleiten, dann kann er das. Er kann jederzeit jedes Boulderfinale durch seine körperlichen Möglichkeiten zu seinen Gunsten entscheiden. Dazu kommen seine geistigen Fähigkeiten, was die Analyse eines Boulderproblems und das Problemlösen anbelangt. Diese Fähigkeiten und seine Sportsozialisierung durch u.a. Kung Fu machten einzigartige Begehungen wie hier, bei dem von ihm zitierten Sieg in München, möglich.
Betrachtet man die anderen langjährig erfolgreichen Kletterer, werden allerdings ähnliche Biographien sichtbar. Von Akiyo Noguchi über Jakob Schubert oder Sean McColl sind aktuell die meisten vor allem Produkt ihres eigenen Engagements, unterstützt durch mehr oder weniger gute Rahmenbedingungen, aber nicht Resultat eines Sportsystems.
„Sportsystem“ ist in diesem Zusammenhang aktuell ein vielleicht zu großer Begriff, allerdings gehen im Hinblick auf Olympia 2020 die Bemühungen vieler Kletterverbände dahin, ein solches zu schaffen. Ein Vorteil wäre beispielsweise, dass Wissen und Erfahrung gebündelt und dem Athleten zugänglich gemacht wird. Außerdem hat der Athlet Personen an seiner Seite, mit denen ein respektvolles Verhältnis besteht und mit denen er sich auf Augenhöhe austauschen kann.
Dies ist gegenwärtig in Ansätzen nur in Japan und Slowenien zu beobachten. Da diese beiden Länder alle Medaillen beim Bouldern in Moskau unter sich ausmachten, bietet sich an, das Männerfinale am Beispiel von Aleksei unter dem Gesichtspunkt „Individualist vs Kollektiv“ zu vergleichen. In der einen Ecke haben wir also die Individualisten, Chon, Gabri und Aleksei, die das Bouldern und ihr Training vornehmlich alleine durchführen, in der anderen Jernej, Gregor und Tomoa, die mehr in Gruppen machen und, in welcher Form auch immer, gecoacht werden.
Das Finale hätte für Aleksei nicht schlimmer beginnen können!
Sein geistiger Zustand ist auf Intensität, Willenskraft und Kontrolle gepolt, gefragt ist aber eine „es geschehen lassen“ Geisteshaltung! Seine fantastische Körperkontrolle kann er bei dem leichtem „Rübergleiter“ nicht wirklich zu seinem Vorteil nutzen, was den Widerspruch von Geisteshaltung zu Aufgabe noch vergrößert und ihn zu unnötigen Fehlversuchen verleitet. Als er den Zug endlich schafft, ist die Zeit vorbei. Dem eher am Fels beheimateten Gabri Moroni geht es ähnlich, einzig Chon, der jüngste und modernste der Individualisten erreicht das Top innerhalb der Zeit.
Die „Kollektivkletterer“ dagegen verbringen mehr Zeit mit verspieltem Bouldern, ihnen sind Schwebezustände nicht fremd. Alle 3 toppen das Problem.
Vorteil: Kollektiv
Ha, dieses Problem ist schon viel mehr nach Alekseis Geschmack! Allerdings haben die Routenbauer einen kleinen new school twist eingebaut, der ihn einen Versuch kostet und an dem Gabri Moroni scheitert. Chon dagegen ist auch völlig in seinem Element und erledigt das Problem humorlos, mit dem gleichen eklig aussehenden Hand- (bzw. Finger!) Wechsler wie Aleksei. Hier wird es interessant, denn ausgerechnet der fantastisch kletternde Kruder, der Gewinner von Meiringen, meint fancy werden zu müssen und versucht, den ekligen Wechsler zu vermeiden. Sein Bemühen um die elegante Lösung bringt ihn um das Top – das würde Aleksei nie passieren!
Vorteil: Unentschieden!
Für diese Situationen muss man Boulderwettbewerbe einfach lieben! Ausgerechnet Tomoa Narasaki, die Inkarnation des modernen akrobatischen Boulderns, schafft es, den relativ einfachen Startsprung schwierig wirken zu lassen! Es ist faszinierend zu sehen, wie das, was man für seine Stärke hält, sich gegen einen richten kann, wenn man es nicht dem Kontext gerecht einsetzt. Am Ende kommen jedoch alle Kletterer zu ihrem Top.
Vorteil: Unentschieden!
So, mittlerweile haben unsere Individualisten erkannt, dass sie sich in einem Boulderfinale im Jahre 2018 befinden. Und das heißt doch: ganz viel schwingen, ganz viel springen, ganz viel auf einmal, ganz crazy, oder? Jaaa, oder … man tut das naheliegende und schwingt erstmal zum nächsten Griff und verschafft sich damit Ruhe und Übersicht, wie Jernej und Gregor! Auch wenn Tomoa Naraski (natürlich) die spektakuläre Fly-by Variante wählt, es wird deutlich, dass die Kollektiv Kletterer in dieser Situation wesentlich kompetenter und handlungsfähiger sind als die Individualisten.
Vorteil: Kollektiv
Es ist völlig klar, dass dieses Boulderfinale, wie alle anderen auch, völlig anders ausgehen hätte können, wären die Karten ein wenig anders gemischt. Da sich die Boulderwettbewerbe jedoch so schnell weiterentwickeln, was die geforderten Bewegungskopplungen und Positionen anbelangt, wird es für Einzelkämpfer jedoch zunehmend schwieriger werden, diesbezüglich up-to-date zu bleiben und sich weiterzubilden.
In diesem Zusammenhang erlaube ich mir darauf hin zu weisen, dass ich die zur Bewältigung des letzten Problems notwendigen Skills im Rahmen eines offenen Trainings einen Monat vor dem Moskau BWC schon erprobt hatte!
Hier sind wieder die Griffauswahl und der Routenbau von zentraler Bedeutung. Gegenwärtig ist es gängige Praxis, dass die Routenbauer einen Großteil der Griffe selber mitbringen. Es hat schon Weltcups gegeben, die durch dieses Engagement der Routenbauer gerettet wurden, weil die Organisatoren nur ein unzureichendes Griffset zur Verfügung gestellt hatten. Auch in Meiringen scheint man diesen Service fest einzuplanen. Die Routenbauer benutzen natürlich Griffe, die sie gut kennen und mit denen sie ökonomisch arbeiten können. Das ist legitim und im Sinne des Sports. Nicht gegen die Griffe oder die Routenbauer richtete sich meine Kritik im letzten Artikel über Meiringen, sondern gegen die diesbezüglich diffusen Vorgaben von Seite des Weltverbandes, der IFSC! Wenn diese Vorgaben nicht transparent konkretisiert werden, was beispielsweise die Anzahl der vom Veranstalter gestellten Griffe und Firmen anbelangt, wird man nicht immer immer das Glück haben, eine Situation wie in Meiringen anzutreffen, wo die Auswahl an Griffen jedes Weltcups würdig war und die Routenbauer faire Boulder schraubten.
In Moskau war dieser Punkt überhaupt kein Thema, die Routenbauer verschraubten alles, was bei drei nicht auf den Bäumen war! So gab es allerlei exotisches Griffwerk zu bestaunen, dass mit Sicherheit keiner der Athleten jemals in den Händen hatte.
Überhaupt berichten alle Beteiligten von einem unglaublich engagierten Einsatz der Organisatoren in Moskau, einen Einsatz und eine Kreativität die bei manchen etablierten Veranstaltern manchmal ins Hintertreffen gerät. Auch nach diesem Finale finde ich wieder: Bouldern ist spannend wie nie!
Im Grunde genommen ähneln sich die Anforderungen bei Boulder Weltcups, fast unabhängig davon, wie der Routenbau im Detail aussieht: In der Qualifikation warten leichte Probleme, du darfst da keine Fehler machen. Im Halbfinale kommen dann die schwersten Boulder, da kämpft jeder, um irgendwie ein paar Tops zu erreichen. Im Finale sollte man dann den Zirkus-Zylinder dabeihaben, es schlägt die Stunde der Trick-Betrüger. Experimentierfreudigkeit und Schnelligkeit sind gefragt. Die Boulderer müssen also von einer Runde zu nächsten von jemandem, der keine Fehler macht, zu jemandem, der keine Angst hat Fehler zu machen, mutieren. Nur wer seine Einstellung schnell anpasst, kann immer mithalten.
Während es bei den Tricks im Finale nicht um Geduld ging, sondern darum, seine Komfortzone entschlossen (aber nicht mit der Brechstange!) zu verlassen, war Geduld die Schlüsselkompetenz im Halbfinale. Immer wieder ging es darum, Positionen schnell zu finden, dafür brauchen die meisten etwas Geduld. Für einen Boulderer ist es oft sehr verlockend, sich das korrigierende Klein-Klein innerhalb einer Bewegung zu sparen und sein Heil in einer großen Bewegung zu suchen, die einen über die Schwierigkeiten trägt. Und zack, bist du den Routenbauern auf den Leim gegangen! Mit großzügigen, schwingenden, weiten Zügen kannst du dich nämlich nicht verspannen in dem vertrackten Arrangement von Griffen, Volumen und Tritten und die wenigen möglichen Belastungsrichtungen nicht zu deinen Gunsten nutzen! Im Halbfinale musstest du diese Belastungsrichtungen und deine Position häufig wechseln, was lange statische Haltezeiten, Stabilisierungen und vor allem eine geduldige Geisteshaltung erfordert, die von einigen fun-orientierten Boulderern heutzutage gar nicht mehr trainiert wird. Auf diese Anforderungen kann man sich nur vorbereiten, indem man ein vielseitigerer und besserer Kletterer wird, da hilft das Einüben isolierter Techniken gar nichts! Hier fiel besonders U18-Kombinationsweltmeisterin Sandra Lettner auf, als sie sich durch besonders geschicktes Festpressen des linken Fußes die einzige Begehung des dritten Problems im Halbfinale sichern konnte. Diese Probleme ähneln phasenweise extrem unübersichtlichen und mühsamen traditionellen Felsklettereien, nur an modernsten Dual-Texture-Plastikgriffen. Apropos Plastikgriffe! Hier ist der ausschließliche Einsatz von zwei Firmen zumindest fragwürdig. So raffiniert und selektiv diese Griffe von ihren Formen her auch sind, sie „altern“ sehr schnell. Das gilt nicht nur für die Griffe, sondern auch für die Tritte. Ist auf einem abschüssigen Tritt zweimal jemand abgerutscht, steigt die Wahrscheinlichkeit des nächsten Abrutschens rasant an, was auch in Meiringen das Ergebnis leider stark verzerrt hat. Hier ist zu hoffen, dass in Zukunft mehr Chancengleichheit geschaffen wird.
Ich hatte im letzten Artikel davon gesprochen, dass gegenwärtig nur wenige Athleten Zugang zum notwendig grausamen Routenbau haben. Am besten werden traditionell die Franzosen in Fontainebleau versorgt, wo Jacky Godoffe verantwortlich ist. Das merkt man den beiden französischen Finalisten auch an. Im Gegensatz zum oben beschriebenen felsähnlichem Klettern lassen sich diese schnellen Trick-Bewegungen nämlich gezielt üben und können, wenn man die Gesetzmäßigkeiten einmal verstanden hat, auf ähnliche Situationen übertragen werden. So wie Fanny Gibert den Plattensprung im dritten Finalproblem der Mädels im ersten Versuch aus dem Ärmel geschüttelt hat, ist ganz große Klasse!
Als Beispiel für einen Athleten ohne Zugang zu hinreichend grausamen Boulderproblemen kann man Nathaniel Coleman sehen, der mit fünf Flashes von ausnehmend schlichten Problemen zur US- Bouldermeisterschaft gesegelt ist. Die dortigen Boulder bereiten in keiner Weise auf die Grausamkeit der Halbfinal-Boulder der Meiringer Routenbauer vor! Es ist, als fände man sich als Fitnessboxer im MMA-Käfig mit Conor McGregor konfrontiert.
Nathaniel war 2015 fulminant auf die internationale Bühne gestürmt. Als Vorbereitung hatte ihn sein damaliger Trainer davor mindestens einmal die Woche im Little Cottonwood Canyon, einem traditionellen Granit-Gebiet, trainieren lassen.(0) Am Fels entwickelte Nathaniel damals die oben beschriebenen Fähigkeiten, die ihm beispielsweise eine beeindruckende Plattenbegehung beim BWC in Toronto ermöglichten.
Dieses letzte bisschen Geduld, die das Ringen um die wirklich optimale Position ermöglicht, fehlte ihm jetzt zum Erreichen des Finales. (1)
Das Routenbau-Team von Meiringen wird auch bei der WM in Innsbruck die Boulder bauen, deswegen ist jeder Aspirant gut beraten, sich mit diesen Zusammenhängen vertraut zu machen.(2)
Nach allem, was ich bis jetzt über die Bedeutung traditioneller Kletterfähigkeiten für den Ausgang in Meiringen geschrieben habe, muss man doch konstatieren, dass selbst die gegenwärtig besten Boulderer klettertechnisch noch nicht vollständig im 21sten Jahrhundert angekommen sind. Sicher, das Jungs-Problem Nummer zwei war sehr attraktiv und spektakulär, ist aber für diese Klasse von Boulderern fast schon Standard – Tomoa hätte sich wahrscheinlich während des Sprungs einen hübschen Pullover häkeln können!
Dass er und die anderen im Plattenproblem (M3) die offensichtliche „Roundhouse“-Bewegung zwar vielleicht in Betracht gezogen, aber jedenfalls nicht ernsthaft probiert haben, spricht allerdings dafür, dass die Routenbauer die Kletterer gegenwärtig noch relativ leicht vorführen können.
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Insbesondere in Anbetracht des Zeitdrucks, wurde die schnelle Roundhouse-Methode vielleicht etwas vorschnell abgeschrieben. Im Livestream sieht man, wie Manu sie visualisiert. Scheinbar war ihm die Bewegungsabfolge noch nicht genügend vertraut, um sie in einem Weltcup zu zeigen.
Wochen vorher hatten wir sie in einem Training mit Sean McColl eingeübt.
(0) Er wusste, dass sich Nathaniel nur durch Bouldern an klassischen US-Plastikproblemen nicht hinreichend vorbereiten könne.
(1) Wer jetzt denkt, Tomoa Narasaki wirkt auch nicht super geduldig: Tomoa findet die richtigen Positionen oft schon beim visualisieren, beziehungsweise beim bouldern so schnell, dass er es selber kaum merkt.
(2) Als Anschauungsmaterial ist der Vergleich der US- und der Japanischen Bouldermeisterschaften empfehlenswert! Japan , USA
Das Studio Bloc Masters war der letzte große internationale Wettbewerb und damit eine Standortbestimmung für die Athleten vor dem ersten Boulderweltcup in Meiringen. Nach einer offenen, extrem aufreibenden Quali finden am nächsten Tag Halbfinale und Finale nach offiziellen IFSC Regeln statt. Hier hat es eine Änderung gegeben, die das Erreichen von Zonengriffen höher bewertet als die Anzahl der Versuche. Diese Änderung hatte jedoch keine Auswirkung auf den Sieg sowohl bei den Damen als auch den Herren – das Podium wurde durch die Anzahl der Versuche entschieden! So erlebte das Publikum einen aufregenden und fairen Boulderwettbewerb. Fair beispielsweise durch Volumen, an denen jede(r) die jeweils optimale Position selber finden kann. Dadurch sind unfaire „Morpho-” Situationen weitestgehend verschwunden. Aufregend durch die abwechslungsreichen Neigungen und den damit verbundenen körperlichen aber besonders auch geistigen Anforderungen. Immer wieder schaffen es die Routenbauer, einen Teil der Kletterer durch Bewegungsaufgaben außerhalb ihres unten beschriebenen Bewegungsrepertoires so zu verwirren, dass sie das Problem entweder gar nicht, oder nur mit zu vielen Versuchen lösen können. Die Anforderungen an geistige und körperliche Schnelligkeit haben dazu geführt, dass der eher ausgemergelte Kletterer dem athletischem Typ gewichen ist. Auf jeden Fall eine sehr positive Entwicklung bei Kletterwettbewerben!
Es gibt jedoch auch Kritik an den modernen Boulderwettbewerben, nämlich dass sie nichts mehr mit dem „richtigen“ Klettern zu tun hätten. Als „richtiges Klettern“ wird bei dieser Argumentation oft das steile sportliche Felsklettern bezeichnet, welches es in der gegenwärtigen Form jedoch erst seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhundert gibt. Diese Art des Kletterns stellt enorme Anforderungen an Kontakt- und Oberkörperkraft und findet hauptsächlich an eher zweidimensionalen Oberflächen statt. Stützende und pressende Bewegungselemente sind besonders im steilen Gelände nicht so wirksam wie haltende und ziehende. Sprünge verbieten sich oft wegen der kleinen und teilweise schmerzhaften Kontaktpunkte. Dass es bei Boulderwettbewerben viel dreidimensional gesprungen und gestützt wird, dient den Kritikern als Beleg, wie weit sich das Plastikbouldern vom Klettern entfernt hätte. Gerade Lauf-Sprung Kombinationen werden oft als Zirkustricks bezeichnet, die nichts mit Klettern zu tun hätten.
Betrachtet man die modernen Boulderbewerbe jedoch menschheitsgeschichtlich und nicht nur aus dem Blickwinkel des Sportkletterns, erkennt man, dass die heutigen Boulderbewerbe wieder zurück zu den Wurzeln des Kletterns kehren! Unter den verschiedenen Fortbewegungsarten, die der Mensch notwendigerweise beherrschen lernte, nimmt das Klettern aufgrund seines Alters eine besondere Rolle ein. Bis vor etwa 2-3 Millionen Jahren war der Lebensraum Baum oder Felsenklippe für unsere Ahnen überlebenswichtig. Er konnte Fluchtort, Schlafplatz oder Beobachtungsposten sein. Wer gut kletterte, wurde nicht gefressen (was Voraussetzung zur Fortpflanzung ist!), konnte sich ausruhen, sich ein Bild seiner Umgebung machen und wurde damals wie heute durch eine innere Hormonausschüttung belohnt. Klettern ist also ein erfolgreiches evolutionäres Konzept und deshalb für uns noch Jahrmillionen später so attraktiv. Klettern entspricht als Bewegungsform dem Mensch, wie Schwimmen dem Fisch und Fliegen dem Vogel entspricht. Durch Klettern erschließen wir uns einen komplexen, dreidimensionalen Lebensraum, in dem Fortbewegung stärkere Fokussierung und neuronale Kontrolle als am Boden erfordert. Besonders die Abstände zwischen den möglichen Kontaktpunkten erfordern ständige Risikoeinschätzung und komplexe Bewegungskoordination. Sämtliche unserer nächsten Verwandten, alle Menschen-Affen benutzen in diesen Situationen Lauf-Sprung Kombinationen, um den nächsten Kontaktpunkt zu erreichen. Die Sprünge von Gibbons sind unseren in jeder Hinsicht meilenweit voraus! Menschengeschichtlich waren Lauf-Sprung Kombinationen also schon immer Voraussetzung für die Fertigkeit des Kletterns. So sehe ich Lauf-Sprung Kombinationen beim Bouldern, als etwas ursprüngliches, als erwiesen beste Methode, weite Abstände zwischen Kontaktpunkten zu überbrücken! Im folgenden werde ich grundsätzliche Aspekte von Bewegungsaufgaben anhand des Studio Bloc Masters 2018 beschreiben.
Das oben beschriebene Überwinden weiter Abstände zwischen Kontaktpunkten wird von den Routenbauern wiederholt abgefragt. Durch alle Runden hindurch müssen Frauen und Männer durch Lauf-Sprung Kombinationen entsprechende Passagen überwinden. Dabei kommt es zu einigen Fehlversuchen, selbst bei den besten Kletterern. Problematisch sind vor allem die Schwungeinleitung und -erhaltung, schnelle Schrittfrequenzen und ganz allgemein die Koordination der Bewegungsachsen und Freiheitsgrade im dreidimensionalen Raum. Vor zehn Jahren war das Hauptproblem bei dynamischen Zügen, den Zielgriff zu erreichen. Dieser war damals oft so positiv und griffig, dass man ihn, egal wie man angesegelt kam, halten konnte. Das gibt es heutzutage bei internationalen Boulderbewerben nicht mehr, jetzt fangen die Probleme oft mit dem Erreichen des Zielgriffs überhaupt erst an. Kontaktkraft ist immer noch ein wichtiger Aspekt für jeden Boulderer, jedoch sind die modernen Griffe auch mit aller Kraft der Welt nicht zu halten wenn der Körper nicht optimal zu ihnen ausgerichtet ist.
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